Eröffnung der Sonderausstellung
„Dimensionen eines Verbrechens. Sowjetische Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg“ - in der Gedenkstätte Esterwegen am 26. Juni 2022
Esterwegen. „Wer von uns erinnert sich nicht mehr jener langen Leidenszüge von russischen Gefangenen, die sich im Kriege in die Lager des Emslandes ergossen! […] Die Transporte nach Deutschland waren oft mehr als behelfsmäßig, die Lager waren schnell überfüllt. […] Zehntausende von Gefangenen wurden in der Erde des Emslandes bestattet.“ Mit diesem Zitat aus den Emsland-Nachrichten vom 6. April 1957 leitete Landrat Marc-André Burgdorf die Eröffnung der Sonderausstellung „Dimensionen eines Verbrechens. Sowjetische Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg“ in der Gedenkstätte Esterwegen am 26. Juni 2022 ein.
Am 22. Juni 1941, vor nunmehr 81 Jahren, überfällt das Deutsche Reich die Sowjetunion. Bis Kriegsende nimmt die Wehrmacht etwa 5,7 Millionen Angehörige der Roten Armee gefangen. Hunger, Kälte und Krankheiten, in Folge unzureichender Verpflegung, schlechter Unterbringung und fehlender medizinischer Versorgung, führen zu einem Massensterben dieser Gefangenengruppe insbesondere von Oktober 1941 bis März 1942. Insgesamt kommen mehr als drei Millionen sowjetische Kriegsgefangene um.
Die Kuratorin der Ausstellung, Dr. Babette Quinkert (Museum Berlin-Karlshorst), ging im Folgenden auf die Entstehung und Bedeutung der zweisprachigen Wanderausstellung ein, die anlässlich des 80. Jahrestags des Überfalls auf die Sowjetunion 2021 im Museum Berlin-Karlshorst von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eröffnet wurde. Sie möchte die vielfältigen Schicksalswege der sowjetischen Kriegsgefangenen thematisieren und einem breiten Publikum nahebringen. Damit wird eine der größten Opfergruppen von NS-Masseverbrechen in den Blick genommen, die in der Bundesrepublik Deutschland bis heute in der breiten Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wird.
Auch in den Emslandlagern und zahlreichen regionalen und überregionalen Arbeitskommandos sterben zwischen 1941 und 1945 tausende Kriegsgefangene aus den 15 Teilrepubliken der ehemaligen Sowjetunion. Im Emsland und in der Grafschaft Bentheim zeugen die jeweiligen „Lagerfriedhöfe“ der Kriegsgefangenenlager Oberlangen, Wesuwe, Versen, Fullen, Groß Hesepe, Dalum, Wietmarschen/Füchtenfeld, Bathorn und Alexisdorf/Neugnadenfeld (heutige Bezeichnung: „Kriegsgräberstätten“) noch heute von diesen Verbrechen der Wehrmacht.
Landrat Burgdorf, zugleich Stiftungsvorstandsvorsitzender der Gedenkstätte Esterwegen, ging auch auf das seit 2019 laufende Gedenkbuch-Projekt der Gedenkstätte Esterwegen und der Gemeinde Geeste ein, das zu möglichst vielen dieser Kriegsgefangenen detaillierte Angaben zur Biografie, zur Gefangenschaft und zur letzten Ruhestätte zusammentrage. Die Online-Publikation solle noch in diesem Jahr erfolgen. Eine erste Auswertung der Projekt-Datenbank zeige unter anderem, dass etwa 2/3 der Personalkarten als Nationalität „russisch“ angäben, gefolgt von der Nationalität „ukrainisch“ (etwa 20 %) und „belarussisch“ (etwa 2 %). Auch der Eintrag zu den Religionen zeige die Bandbreite innerhalb der Angehörigen der sowjetischen Streitkräfte. Den größten Anteil mache die Konfession „(russisch-)orthodox“ aus, gefolgt von „griechisch-katholisch“ und „moslemisch“. „In der öffentlichen Wahrnehmung zumeist unbeachtet ist lange Zeit geblieben, dass unter den verstorbenen sowjetischen Kriegsgefangenen auch Menschen jüdischen und islamischen Glaubens waren“, so Burgdorf weiter.
Beim gemeinsamen Rundgang durch die Ausstellung verwies Martin Koers, Co-Leiter der Gedenkstätte, auf die regionale Erweiterung der Ausstellung durch Glasvitrinen, die unter anderem Nähkörbchen aus geflochtenem Stroh zeigen. „Diese mit einfachsten Werkzeugen und großer Fertigkeit zumeist aus Holz oder Stroh, selten aus Metall gefertigten Gegenstände tauschten die Gefangenen beim Lagerpersonal oder an ihren Arbeitsstellen in der Zwangsarbeit gegen Lebensmittel. Zum Teil verschenkten die Kriegsgefangenen auch selbstgefertigte Dinge als Dank für heimlich zugesteckte Lebensmittel und andere Zuwendungen“, erläutert er. Ein besonderer Dank gehe deshalb an die Leihgeber dieser Exponate, den Heimatverein Wietmarschen und den Verein Lagerbaracke Alexisdorf-Neugnadenfeld.
Als Begleitprogramm zur Ausstellung findet am 20. September 2022 um 18.30 Uhr ein Vortrag von Ann Katrin Düben (Gedenkstätte Breitenau) zu den regionalen Kriegsgräberstätten und sowjetischen Toten statt; weitere Vorträge werden zeitnah angekündigt.
Die Eröffnungsveranstaltung fand im Rahmen der Aktionswoche des „Hilfsnetzwerks für Überlebende der NS-Verfolgung in der Ukraine“ statt, das aus mehr als 46 Gedenkstätten, Museen und Erinnerungsinitiativen gebildet wird, darunter auch die Gedenkstätte Esterwegen (hilfsnetzwerk-nsverfolgte.de).
Der Begleitband ist während der Laufzeit der Ausstellung zum ermäßigten Preis von 15 Euro in der Gedenkstätte Esterwegen erhältlich. Die Ausstellung wird bis zum 14. Dezember 2022 während der Öffnungszeiten der Gedenkstätte Esterwegen (dienstags bis sonntags, 10 bis 18 Uhr) zu sehen sein. Der Eintritt ist frei.
Bild: (v. l.) Sebastian Weitkamp, Babette Quinkert, Martin Koers und Landrat Marc-André Burgdorf in der Ausstellung (Foto: Gedenkstätte Esterwegen)