Grundlagenwerk macht Forschungslücken sichtbar
Anstoß zur weiteren Aufarbeitung der NS-Zeit im Emsland
Meppen. Eine kommentierte Bibliographie zur Forschungsliteratur zur NS-Zeit liegt vor. Diese Übersicht soll als Grundlage für die weitere wissenschaftliche Arbeit genutzt werden und wurde dem Ausschuss für Kultur und Tourismus vorgestellt.
„Als 2019 in den Kreisgremien eine intensivere Auseinandersetzung mit der Geschichte des Landkreises Emsland insbesondere in der Phase zwischen 1933 und 1945 diskutiert wurde, war es das Ziel, die Strukturen und Auswirkungen der nationalsozialistischen Herrschaft auf dem Gebiet des heutigen Landkreises Emsland genau zu untersuchen“, erläutert Erster Kreisrat Martin Gerenkamp. Ergebnis dieser Beratungen war damals ein Sitzungsbeschluss, der die Kreisverwaltung damit beauftragte, um Forschungslücken aufzuzeigen nicht nur eine Bibliographie als Quellenübersicht und Grundlagenwerk zu erstellen, sondern auch einen Sammelband herauszugeben, der diese Lücken durch Fachbeiträge zu schließen versucht. 170.000 Euro stellte der Landkreis Emsland dafür bereit.
Ungünstig auf den Verlauf der Arbeiten wirkten sich im Weiteren die Coronapandemie mit zeitweiligen Schließungen von Bibliotheken und Forschungseinrichtungen sowie ein häufiger Wechsel der Werkvertragsnehmerinnen aus.
„Mit der Historikerin Natalia Wollny, die im Juli 2021 ihr Master-Studium im Fach Geschichte an der Universität Hamburg absolvierte und als Pädagogin an verschiedenen NS-Gedenkstätten tätig war, konnte schließlich eine kompetente und ambitionierte Wissenschaftlerin für das Projekt gewonnen werden“, sagt Gerenkamp. In den sieben Monaten, die ihre Arbeit angedauert habe, habe sie sich schnell mit den hiesigen Bibliotheks- und Archivbeständen vertraut gemacht und diverse Fachleute konsultiert. Darunter auch die Leiter der Gedenkstätte Esterwegen, Dr. Sebastian Weitkamp und Martin Koers, der frühere Kreisarchivar Heiner Schüpp sowie sein Nachfolger Erik Kleine Vennekate, Mitarbeitende des Emsländischen Heimatbundes, der Leiter des Stadtmuseums Meppen, Burghardt Sonnenburg, sowie die Leiterin des Dokumentationszentrums Haren/Maczków, Dr. Britta Albers.
Natürlich konnte die Recherche an den Landkreisgrenzen nicht Halt machen, sondern es wurden auch universitäre Buchbestände und bislang unveröffentlichtes Schriftgut (so genannte „Graue Literatur“) in die Suche einbezogen.
Am Ende steht ein Bild, das Wollny in ihrer Einführung zur Bibliographie wie folgt beschreibt: „Das Projekt zeigt […] auf, dass es bislang gravierende Desiderate zu grundlegenden Themenkomplexen des Nationalsozialismus gibt. Dies gilt beispielsweise für die Aufarbeitung der Zwangsarbeitsstrukturen im Emsland. Noch bis in die 2000er Jahre wurde für zivile Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter der Begriff ‚Fremdarbeiter‘ gewählt, der den Zwangscharakter relativierte. Im ‚Dritten Reich‘ waren etwa 13,5 Millionen Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge sowie zivile Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Landwirtschaft und Industrie eingesetzt und das auch breitflächig im Emsland. Das Verschleppen von Millionen von Menschen und der Einsatz zur unfreiwilligen Arbeit wird auf regionaler Ebene nach wie vor zu wenig beachtet. […]“
Auch seien zwar zur Verfolgung der jüdischen Bevölkerung im Emsland einige differenzierte Publikationen zu finden. Dies ließe sich aber nicht für andere Minderheiten wie Sinti und Roma, Zeugen Jehovas, Homosexuelle, so genannte „Asoziale“ oder auch Menschen mit körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen feststellen. Ihre Verfolgung, Misshandlung und Tötung werde in der Forschung - auch in der emsländischen - kaum bis gar nicht thematisiert, stellt Wollny fest.
Zudem äußere sich die nationalsozialistische Ideologie nicht nur in den verbrecherischen Lagereinrichtungen und Organisationen wie der SA, SS oder HJ, sondern wirkte in alle Bereiche des öffentlichen wie auch privaten Lebens hinein. Das gilt auch für den Bereich der Wirtschaft, der Bildung, der Kunst, der Kultur, der Presse und natürlich auch für die städtischen und kommunalen Verwaltungen.
„Somit haben sich die anfänglichen Prognosen bestätigt, die davon ausgingen, dass sich die Durchsetzung einer ,Volksgemeinschaft´, die Kriegswirtschaft in der Region, die Verbindung von Kommunalverwaltung und Bevölkerung, die Geschichte des lokalen Widerstandes oder die Entnazifizierung nach dem Krieg im Überblick als eher randständige oder gar unterbelichtete Forschungsgegenstände erweisen würden. In der Summe haben sich die Lücken indes noch vervielfältigt. Defizite sind auch an anderer Stelle festzustellen, so beispielsweise im Bereich Bildung und Erziehung oder auf dem Feld der nationalsozialistischen Kunst- und Kulturpolitik“, heißt es in der Einführung weiter.
Damit die Bibliographie keine Momentaufnahme des Jahres 2022 bleibt und damit auf lange Sicht erneut revisionsbedürftig würde, soll sie als digitale Rechercheplattform veröffentlicht werden. „So ist sichergestellt, dass auch neue Erscheinungen oder bislang übersehene Publikationen in die Datenbank eingepflegt werden können“, berichtet Gerenkamp. Die Plattform soll künftig der Homepage der Gedenkstätte Esterwegen angegliedert werden, ist frei zugänglich und soll ab voraussichtlich Anfang 2023 starten. „Sie steht damit der historischen Wissenschaftsgemeinde, Heimatforschenden sowie Schülerinnen und Schülern gleichermaßen zur Verfügung“, sagt Gerenkamp.
Um die nächste Phase der Aufarbeitung einzuleiten, wird sich in den folgenden Monaten eine kleine Arbeitsgruppe mit der Planung einer mehrtägigen Fachkonferenz befassen. Deren Beiträge sollen anschließend in einem Tagungsband veröffentlicht werden.